Das Projekt

Eine einzigartige Inszenierung an der Schnittstelle zwischen Konzert, Lesung, Vortrag und Musiktheater, die Vielfalt und Gemeinsamkeiten der Region zwischen der Ukraine und Budapest literarisch und musikalisch widerspiegelt.

Es wird Zeit, dass wir uns auf die Reise machen …

Erzählt werden die Geschichten von einem Reporter (Lukas Bärfuss), einem Rhapsoden des 21. Jahrhunderts, der Osteuropa bereist und mit den Menschen ins Gespräch kommt. Eingefügt in einen musikalischen Rahmen, den Gwendolyn Masin, international gefeierte Violinistin, mit Komponist:innen und Arrangeuren in den besuchten Orten komponiert und der, in Ergänzung zum Text, eine musikalische Reise durch die Vielfalt dieser kulturell reichen Gegend ermöglicht, reist das Publikum mit dem Rhapsoden von Dorf zu Dorf, von Land zu Land auf einer Entdeckungsreise, taucht ein in die Erinnerungen des Fahrenden, der auf seinem Weg von Minsk nach Odessa, von Istanbul nach Budapest den Geschichten der Menschen lauschte. Eine literarische und musikalische Reiseerzählung, ein Mosaik aus Träumen, Erinnerungen, Sehnsüchten, Witzen, Anekdoten, aus Geschichten von Liebe, Krieg und Verlust, von Heldentum und Unglücksfällen, aus der grossen politischen Geschichte und dem Wiegenlied – ein Mosaik, das verdeutlicht, wie willkürlich auf der Karte gezogenen Grenzen anmuten in einer Region, die seit Jahrhunderten von Austausch und Bewegung, von Handel, Verschmelzung, Überlagerung, Durchdringung, Eroberung, Diebstahl, Verdrängung und Verfolgung geprägt ist, in der dasselbe Lied als Volksweise und als Jazzstück gespielt werden kann und dennoch seine Essenz nie verliert.

Die Geburt der Kultur aus dem Rhythmus des Fahrenden

Die Idee

Während der letzten drei Jahre trafen sich Gwendolyn Masin und Lukas Bärfuss regelmässig und tauschten Geschichten und Musik aus. Dabei fragten sie sich, weshalb gewisse Nachrichten Aufmerksamkeit erhalten und medial verbreitet werden, andere aber verschwinden oder nie erzählt werden; ob unser Empathievermögen gerade deswegen abflacht, weil wir ständig bombardiert werden von Nachrichten, die nur ein Displaywischen entfernt sind; weshalb wir trotz Gewalt, Krieg und Menschenrechtsverletzungen nachts selig in unseren Betten schlafen können, als hätten wir Filter eingebaut, um uns vor den Realitäten anderer Menschen zu schützen, als hätten viele von uns die Fähigkeit zur Empathie für Menschen aus anderen Gesellschaften verloren.

Nach und nach kristallisierte sich die Idee heraus, einen Abend zu gestalten, der das Publikum fernab von sensationalistischer Berichterstattung auf eine Reise entführt durch Geschichten, die menschliche Erfahrung transportieren – eine Reise in die Welt des Denkens, der Emotionen, der Erfahrungen, die von den Menschen in den bereisten Regionen gelebt werden.

Kreativer Prozess

Seit seiner Kindheit ist Lukas Bärfuss’ ́Vorstellungsraum geprägt von der Kultur und Geographie Osteuropas. Früh hat er begonnen, Bücher aus diesem Kulturraum zu lesen, Krabat von Ottfried Preussler, die Zimtläden von Bruno Schulz, die Erzählungen der Chassidim von Martin Buber. Aus den Reisen in der Vorstellung wurden Reisen in den geographischen Raum, aus Begegnungen mit literarischen Figuren Begegnungen mit Menschen aus Fleisch und Blut.

So ist dieses Projekt für ihn auch wesentlich eine Erkundung seines eigenen Bewusstseins und der Entstehung dieses Bewusstseins. Seit dreissig Jahren bereist Lukas Bärfuss die Länder Osteuropas. Dabei ist Literatur zentral. Zu Beginn einer Reise steht oft ein Buch, das seine Neugier weckt, und das ihn dazu bewegt, sich auf Reisen zu begeben, um zu sehen, wie es dort aussieht, wo das Buch spielt, um die Menschen zu treffen, die darin vorkommen, die es geschrieben haben. Neben den von ihm gesuchten und arrangierten Begegnungen entstehen andere, zufällige, und sie alle steuern ihren Teil bei zu der Sammlung an Geschichten, die er über Ländergrenzen hinweg schmuggelt, um sie an diesem Abend erzählen zu können. Dabei ist Literatur zentral. Sie war und ist seine Reiseführerin. Der Abend ist ein Geflecht aus Geschichten, die ihm zugetragen wurden, und Geschichten, die er in Büchern las – dadurch gelingt es Lukas Bärfuss, Welten freizulegen und zugänglich zu machen, die sonst hinter Schlagzeilen und Nachrichtenbildern verschwinden.

Photos: Florian Spring; János Fejér

Die Musik für das Projekt zusammenzustellen ist eine grosse Aufgabe. Gwendolyn Masin wählt Fragmente oder kurze Volksweisen aus den Ländern aus, die sie bereist, entwickelt diese weiter und kreiert daraus ihre eigene Musik. Die Fragmente, die sie wählt, haben bereits eine eigene Geschichte, die weitergesponnen wird. Sie sucht nach Liedern, die in weiten Teilen der Welt gespielt werden und deren Kadenzen doch ein jeweils eigenes Idiom vorweisen.

Für ihre Recherche besuchte sie das Archiv von Walter Labhart in Endingen, Aargau, und digitale Bibliotheken aus Ungarn, Israel, Serbien und Belgien; des Weiteren führt sie Gespräche mit Musikwissenschaftler:innen aus Dublin, New York, der Ukraine, der Türkei und Griechenland. Gwendolyn arbeitete mit Komponisten, Arrangeuren, Musikethnologen und Musikern wie Garth Knox, Raymond Deane und Máté Viszeli zusammen.

Es geht um Austausch, um gemeinsames Spielen, um das Auswählen und Entwickeln von Melodien. Eine von vielen Aufgaben wird darin bestehen, herauszufinden, wie schlicht oder stark orchestriert jede einzelne Melodie sein soll. Für die Arrangements zieht sie neben Miklós Lukács auch weitere Komponisten wie Daniel Schnyder und Ákos Hoffmann bei. Von Antoine Auberson wird eine Uraufführung gespielt.

Lukas Bärfuss
The Journey

D i e  e r s t e  R e i s e

I
Der letzte Sommer

Die erste Reise an der Hand einer Frau
von der ich nur den Namen kenne: Marta

Marta
Marta ist schön und schön ist
der letzte Sommer in Lwiw
Lemberg in Galizien
Lemberg
an der Grossen Europäischen Wasserscheide

Wie viele Armeen wollten dich
Wie vielen wurdest du zur Heimat
zum Verderben

Nie bin ich dieser Stadt gewesen
Wie kann es sein
dass ich sie doch bewohne
mit dir
Mit Marta

Und weisst du
Ich seh dich
auf deinem Hof
im letzten Sommer
Und wie golden das Korn steht
und wie die Sonne brennt
und die Abende sind
wie sie sein sollen
im Sommer
Ohne Schlaf
Ohne Ende

Wie erzählst du

Der Spätsommer 1939
war klar und golden
wie zum Hohn auf die Schrecken des Krieges
dessen böser Hauch in der Luft lag

Die letzten Augusttage

Marta auf ihrem Landsitz
Gespanne und Fahrzeuge
beschlagnahmt von der Armee
Der Verwalter eingezogen
Die Arbeitskräfte weg
Der Schuppen leer
Niemand da

Das Haus ist mehr als ein Haus
Eine Kindheit
eine weissgetünchte Kindheit
Viele Kindheiten

Der Geruch
sonnendurchglühter Bohlen
Kümmel
Im Speicher Raps

Mutlos und unfähig
Kann es nicht fassen
Abschied
Abschied

Marta packt eine Kleinigkeit
und wirft sie in den Rachen eines Koffers

Teppiche
Gobelins
Bilder
hat sie in die Stadt geschafft

Was hierbleibt – was hierbleiben muß – ist verloren

Die Bibliothek 
Die vertrauten Bücherrücken 
Mit geschlossenen Augen
kann Marta einen Band herausgreifen
und findet stets den Richtigem 

Die Bücher retten
Aber wie?

Die Bücher retten
vor dem Krieg
Retten
Retten die Bücher

Rettet mich dein Buch
Marta
Marta Rudzka

Rettet mich dein Buch
gefunden im Brockenhaus in einer Kiste

Rettet dieses Buch aus dem Jahre 1946
einen Jungen im Jahre 1984
einen Jungen von dreizehn Jahren

Wie
Wovor

Der Garten
Wie eine Fliege im Bernstein
ruht er ahnungslos in der Sonne
Wie prachtvoll
blüht dieses Jahr die Kapuzinerkresse

Im Obstgarten duften schon die Äpfel 
Eine Kanne gluckst
mit fünfundzwanzig Litern Milch
ein Strauß Sonnenblumen
Milch und Sonnenblumen
so nimmt das Haus Abschied

Und so nimmt der Frieden Abschied 
Er wird ertränkt
in Menschenblut
Am 1. September
fallen die ersten Bomben auf Lwiw

Rauchwälle über der Stadt
Der Podzameze-Bahnhof brennt
die Alkohollager in Zolkiewskie brennen

Kein Windhauch 
Reglos
als wär’s ein Zauber
hängt in der Luft
der Rauch   

Das schöne Wetter dauert an
Die Ruinen werden zahlreicher 
Schutt und Scherben
fußhoch in den Straßen

Die Deutschen haben Jaroslaw erreicht
In der zweiten Septemberhälfte 
der schwärzesten Stunde 
marschieren die Sowjets ein
Aus dem Osten
Sie ergießen sich über das unglückliche Land 

Wer kann
geht auf eine Reise
Wer kann
der flieht 
Todmüde Massen
außer sich vor Entsetzen 
Angehörige der Intelligenz 
Sie kennen ihr Schicksal  
Sie fliehen
auf Kraftwagen
auf Pferdewagen 
auf Fahrrädern
zu Fuß

Bomben fallen 
Granaten pfeifen
in den Vororten
bellen Maschinengewehre

Dann
wird es still 
Unheimliches Schweigen  

Dann bricht der Sturm los

Drei Tage und drei Nächte
zittert und dröhnt die Stadt
vom Lärm der Sowjettanks 
sie überfluten die ausgestorbenen Straßen 
Patrouillen
immer zwei und zwei zusammen
lehmfarbener Mantel
aufgepflanztes Bajonett
Auf der Mütze das rote Sternchen
wie ein getrockneter Blutfleck